Der Oeschbergschnitt – Erziehung einer stabilen Hochstammkrone

von Markus Zehnder, Landratsamt Zollernalbkreis

Kontroverse Diskussionen über den ‚richtigen‘ Obstbaumschnitt haben jahrzehntelange Tradition. Die Erziehung von Obstbaumkronen muss sich sowohl im Jugend- als auch im Ertragsstadium an dem Grundsatz orientieren, dass möglichst alle Kronenpartien gleichmäßig belichtet werden. Dies gilt ganz besonders für die inneren Kronenteile. Nur in gleichmäßig belichteten Kronen kann gewährleistet werden, dass sich die Kronenausdehnung sowohl in der Höhe als auch in der Breite beschränkt und damit das Astgerüst auf Dauer stabil bleibt.

Bereits 1888 hatte Nicolas Gaucher, Direktor der Obst- und Gartenbaufachschule und späterer Geschäftsführer des Landesobstbauverbandes, in seinem Handbuch der Obstkultur die Erziehung von Pyramidenkronen beschrieben. Seine Grundsätze wurden später von Wenk und Winkelmann für die Ausbildung von Baumwarten übernommen und bis in die 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts gelehrt. Diese auch als „Alt-Württemberger Schnitt“ bezeichnete Methode empfahl die Erziehung einer zweiten Astserie auf Lücke. Heute zeigen uns die alten Obstbaumkronen, dass dies zur Überbauung der oberen Kronenpartien und in dessen Folge zur Beschattung und Verkahlung der unteren und inneren Kronenpartien führen kann. Deshalb wird diese Erziehungsform bereits seit vielen Jahren von den Kreisfachberatern in Baden-Württemberg nicht mehr gelehrt. Seit den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es verschiedenste Ansätze, den Schnitt von Hochstammkronen neu zu überdenken. Entscheidende Denkanstöße brachte der von Hans Spreng, langjähriger Leiter der Schweizerischen Zentrale für Obstbau in Oeschberg entwickelte Oeschbergschnitt.

Abb. 1: ‚Boskoop‘ nach den Grundsätzen des Oeschbergschnittes erzogen (Quelle: Rudolf Thaler)

Heute gelten für die Kronenerziehung im Streuobstbau folgende Grundsätze:

  1. Erziehung einer schlanken Mitte, garniert mit kurzen Fruchtästen und Fruchtholz, jedoch ohne zweite Astserie.
  2. Erziehung von 3-4 Leitästen mit flachem Abgangswinkel, aber steil stehender Leitastverlängerung.
  3. Erziehung von kräftigen, flach stehenden und untergeordneten Fruchtästen an Mitteltrieb und Leitästen.

Diese Grundsätze finden sich ganz überwiegend in dem von Hans Spreng seit Ende der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelten Oeschbergschnitt wieder, sodass diese heute als Leitlinie dienen kann.

Hans Spreng hatte den Obstbaumschnitt von seinem Vater gelernt. Dieser wiederum war in Stuttgart bei Nicolas Gaucher im Unterricht. Sohn Hans wollte eine wirtschaftliche Tafelapfelproduktion auf Hochstämmen erzielen und erkannte, dass bei der praktischen Anwendung der Württemberger Schnittmethode unüberwindbare Schwierigkeiten auftraten (z.B. mangelnde Belichtung innerer Kronenpartien, hohe und arbeitsintensive Bäume). Er entwickelte im Laufe von 30 Jahren mit dem Oeschbergschnitt eine Schnittmethode, die seinen Zielvorstellungen entsprach.

Abb. 2: Altbäume im Schweizerischen Thurgau mit Oeschbergkronen

Das Umdenken griff langsam auch auf den süddeutschen Raum über. Nach einem beruflichen Aufenthalt in Oeschberg versuchte Helmut Palmer, ab den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts diesen Schnitt als „Oeschberg-Palmer“-Schnitt in Baden-Württemberg einzuführen. Da dies – auch aufgrund seines kompromisslosen Auftretens – bei den damaligen Fachberatern nicht auf die gewünschten offenen Ohren traf, kam es zum sog. „Württembergischen Obstbaukrieg“. Aber auch Dr. P.G. de Haas (damaliger Professor der TH Hannover) veröffentlichte 1965 erstmals seine Grundsätze zum „Naturgemäßen Obstbaumschnitt“ und lehnte sich an den Oeschbergschnitt an. Das Umdenken hatte nun weite Kreise gezogen. Der damalige Ludwigsburger Fachberater Heiner Schmid veröffentlichte 1978 erstmals sein Buch „Obstbaumschnitt“ im Verlag Eugen Ulmer, das bis heute in seiner 9. Auflage als wegweisend gilt. Auch er rückte vom „Alt-Württemberger Schnitt“ ab und übernahm die Grundzüge des Oeschbergschnitts.
Ziel von Hans Spreng war es, eine „leicht verständliche und klare Lehrmethode“ zu entwickeln, die die Fruchtbildung in den unteren und inneren Kronenpartien dauerhaft ermöglicht.  Doch wies er auch deutlich darauf hin, dass kein Baumschnitt nur nach Schema F erfolgen darf: „Wer sich mit der Kronenpflege der Obstbäume befassen will, muß nicht nur die Methode beherrschen, sondern er muß überdies ein guter Beobachter sein und die wichtigsten physiologischen Grundgesetze kennen, welchen das Leben der Bäume gehorcht“ (KOBEL/SPRENG 1949). Ganz entscheidend hierbei ist das Erkennen und berücksichtigen Obstsorten-spezifischer Wuchseigenschaften.

Abb. 3: Ungepflegte Krone einer „Schweizer Wasserbirne“
Abb. 4: Derselbe Baum nach dem Erstschnitt
Abb. 5: Triebreaktion des Baumes nach 3 Jahren

Abb. 6: Folgeschnitt

Bestandteile einer Oeschbergkrone sind:

  1. Der Mitteltrieb (Stammverlängerung)
    Der Mitteltrieb baut die Krone nach oben auf. Mit Hilfe der Fruchtäste sorgt er für die Garnierung des Kroneninneren mit Fruchtholz. Die am Mitteltrieb erzogenen kräftigen Fruchtäste sollen die Lücken zwischen den Leitästen ausnützen. Dies gelingt aber nur, wenn die Leitäste in einem flachen Abgangswinkel (mind. 45°, besser 50°) erzogen werden.
  2. Die Leitäste
    Bei der Oeschbergkrone werden vier Leitäste erzogen. Wird aber in Abwandlung zum Oeschbergschnitt zur besseren Ausnutzung des Kronenraumes je Leitastseite ein untergeordneter Seitenast erzogen, sollte die Krone mit 3 Leitästen gebildet werden. Die Leitäste dürfen nicht quirlig, sondern über gut 30 cm verstreut am Mitteltrieb erzogen werden. Ihr Abgangswinkel sollte 45 bis 50° aufweisen. Dann empfiehlt sich ein immer steileres Aufziehen, bis die Leitastverlängerung nahezu senkrecht steht. Diese senkrechte Stellung ist Voraussetzung für Stabilität und einen dauerhaften Neuzuwachs.
  3. Die Fruchtäste
    Als Fruchtäste werden stärkere Äste bezeichnet, die erzogen werden. Sie tragen das Fruchtholz. Der Abstand der Fruchtäste ist sortenabhängig. Bei schwachwüchsigen Sorten mit kurzem Fruchtholz (z.B. Goldparmäne, Champagner Renette, Klarapfel) werden mehr Fruchtäste erzogen. Sie sind auch bezüglich der Stärke den Leitästen und dem Mitteltrieb untergeordnet.
  4. Das Fruchtholz
    Mitteltrieb, Leitäste und Fruchtäste bilden das Gerüst des Baumes. Fruchtholz kann und sollte in der gesamten Krone erzogen werden. Es wird nur ausgelichtet, verjüngt oder entfernt, aber keiner jährlichen Behandlung unterzogen. Dies ist besonders wichtig, um einer unregelmäßigen Fruchtbildung (Alternanz) gegenzusteuern. Schwaches Fruchtholz wird auch auf der Astoberseite erzogen, um die Äste zu beschatten. Zur Förderung der Fruchtholzbildung können Triebe flach gestellt und deren Endknospe entfernt werden.

Mit dem Oeschbergschnitt wird ein systematischer Kronenaufbau beschrieben. Die Krone gliedert sich in die genannten Bestandteile. Zweite oder gar dritte Leitastserien gehören somit der Vergangenheit an. Bei der Umsetzung dieser Leitlinien ist jedoch Flexibilität gefragt. Ein aufmerksamer Baumpfleger sollte die Fähigkeit entwickeln, die Reaktion seines Schnittes am Baum zu beobachten und gegebenenfalls darauf zu reagieren. So kann der nahezu christbaumartige Wuchs der ‚Oberösterreicher Weinbirne‘ oder der bogige Wuchs von „Alexander Lucas“ nicht in diese Kronenform „gezwängt“ werden. Ein konsequenter Oeschbergschnitt wäre hier nicht „naturgemäß“. Auch gibt es in Abwandlung zu den Grundsätzen des Oeschbergschnitts die Variante, dass an den Leitästen untergeordnete Seitenäste erzogen werden. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass diese so schlank angeordnet sind, dass die Krone noch offen und zugänglich bleibt. Häufig kann außerdem beobachtet werden, dass Leitäste zu flach erzogen werden, mit dem Fruchtertrag nach außen kippen und in der Entwicklung zurück bleiben. Hier hilft nur das Nachziehen einer neuen Leitastverlängerung mit steilerer Stellung.

Abb. 7: Oeschbergkrone neben unregelmäßig geschnittener ‚Oberösterreicher Weinbirne‘

Zu all den Vorteilen des Oeschbergschnitts muss ergänzt werden, dass den konsequent nach der Oeschbergmethode erzogenen Obstbäumen die Möglichkeit genommen wird, eine sortentypische Krone zu bilden. Dies entspricht nicht einer naturgemäßen Krone und führt zu einem vereinheitlichten Kronenbild. Eine Sortenbestimmung anhand des Kronenbildes wird dadurch erheblich erschwert.
Diese Ausführungen zeigen, dass der Oeschbergschnitt zwar eine gute Leitlinie vorgibt, aber in der Praxis nicht dogmatisch, sondern flexibel und variabel umgesetzt werden sollte.